Das verlorene Gespräch - ein homöopathisches Märchen

Es war einmal ein kleiner Kreis vieler verschiedener Globuli. Die trafen sich mehr oder weniger regelmäßig zu einem Erfahrungsaustausch über ihr Dasein und Wirken in der materiellen Welt.
Aufgrund ihres unterschiedlichen Standes ihrer feinstofflichen Kräfte waren sie in der Lage, aus ganz individuellen Perspektiven heraus Andere an ihrer Lebenserfahrung teilnehmen zu lassen. Und so entwickelte sich ein dichtes und tragfähiges Netz von gegenseitigem Geben und Nehmen, in dem jeder Globulus seine persönliche Bestimmung als Teil des Ganzen wahrnehmen konnte. Dieser Erfahrungsaustausch fand in einem herzlichen Miteinander statt, so dass sich jeder einzelne von ihnen wohl fühlen konnte.

So waren viele Monate ins Land gegangen. Der kleine Kreis erfuhr von den Höhen und Tiefen seiner Mitglieder; sie berieten sich gegenseitig, Jeder auf seine Art und Weise und so entstand ein konstruktives Ganzes. Neue Globuli kamen hinzu, andere verließen den Kreis wieder und so ging das Gespräch untereinander mal mehr, mal weniger eifrig weiter.

Inzwischen schreiben wir das Jahr 2006 - für Globuli ja nun wirklich kein greises Alter. In der materiellen Welt fand in diesem Jahr ein Ereignis statt, was die Menschen mit „Fußball-Weltmeisterschaft“ bezeichneten. Für gänzlich Unerfahrene unter uns nur eine kurze Erläuterung dazu: Menschen aus der ganzen Welt - vorzugsweise die männlichen - fochten einen Wettstreit untereinander aus, den sie sportlich nannten. Dazu nahmen sie sich einen ganz besonders großen Globulus - empfindsame Seelen unter uns jetzt bitte weghören! -, ließen ihn über eine große Spielwiese rollen, jagten ihm in wilder Horde hinterher, nur um ihn sodann mit einem fürchterlichen Tritt wieder von sich zu schießen. Dabei nahmen sie auch untereinander keine Rücksicht: Es gab ein Gerämpel, Geschubse, ein Treten gegen empfindliche Stellen und das nur, um den Riesenglobulus schließlich in einen Käfig aus Gitterstäben zu befördern, was sodann ein Gejohle einerseits und ein Fluchen andererseits auslöste.

Soweit zu dem so genannten „sportlichen“ Ereignis in der materiellen Welt, was aber scheinbar auch den kleinen Kreis der Globuli beeindruckte.

Fazit: Der Erfahrungs- und Gedankenaustausch unter ihnen wurde immer seltener, bis er drohte, ganz einzuschlafen. Das betrübte den Erzähler dieses Märchens so sehr, dass er sich ein Herz fasste und Einzelne aus dem Kreis, die sich ja im Laufe der Vergangenheit näher gekommen waren und bei ihren Namen kannten, befragte, welche weiteren Ursachen denn wohl zum Verlust des Gespräches, zum immer größeren Schweigen geführt haben mögen.

Hier die Antworten der Einzelnen:

Pulsatilla: „Alle Erfahrungen der Anderen, egal ob glücklich oder traurig, rühren mich ständig so zu Tränen, dass ich nicht mehr aufhören kann, zu weinen. Das ist letztlich nicht schlimm, aber so viel Trost, wie ich mir dann wünsche und brauche, gibt es einfach gar nicht.“

Silicea: „Ich traue mich einfach nicht, meine eigenen Erfahrungen zu beschreiben oder auf die der Anderen einzugehen. Ich bezweifel immer wieder, dass das, was ich sage, auch richtig ist. Ich weiß, mir fehlt eine gewisse Stabilität, aber meine Unsicherheit lähmt mich geradezu.“

Tuberculinum: „Ach, was soll das Ganze überhaupt? Am Anfang ist es ja noch ganz spannend, aber nach kurzer Zeit wird es doch langweilig für mich. Ich such mir lieber was Neues!“

Natrium-muriaticum: „Ich habe mich über einen langen Zeitraum immer wieder eingebracht, weil ich in dem erzählten Leid der Anderen meinen eigenen Kummer immer wieder gespürt habe. Und ich hoffte, dass man mich hier nicht, wie überall anders, tief verletzen würde. Aber, ich hätte es besser wissen müssen: Auch hier werde ich verletzt…ich werde in Zukunft Nichts mehr von mir offenbaren.“

Carcinosinum: „Ich bin voller Sehnsucht hierher gekommen. Sehnsucht nach Verständnis, nach Liebe und Bestätigung meiner selbst. All das suche ich auf meinem Lebensweg, habe es aber nie bekommen, egal, wie sehr ich mich dafür an meine Grenzen gebracht habe. Und dazu mein tiefes Mitgefühl mit Anderen macht mich nur krank.“

Belladonna: „Mich macht das Ganze hier einfach rasend und dann könnte ich um mich schlagen, beißen und spucken! Außerdem bekomme ich Panik, wenn Hunde mit im Spiel sind.“

Aconitum: „Vor vielen, vielen Jahren habe ich einen fürchterlichen Schock erlitten, der mich bis heute nicht loslässt. Und seitdem bekomme ich eine furchtbare Angst, wenn ich auch nur davon höre, wie elend es Anderen geht. Dann denke ich sofort an meinen eigenen Tod, der mir so klar und deutlich vor Augen steht, dass ich ihn auf die Stunde genau voraussagen könnte.“

Bryonia: „Mir geht das hier alles einfach nur an die Nerven, es macht mich nervös. Ich käme ja nie auf die Idee, meine eigenen Probleme zur Diskussion zu stellen, die gehen Keinen was an. Aber glaubt mir, auch ich habe Sorgen - und die sind sehr existenziell! Aber lasst mich bloß in Ruhe!“

Lycopodium: „Ich bin damals diesem armseligen Kreis beigetreten, weil ich den Eindruck hatte, dass man dort eine ordnende und führende Hand brauchte und nur auf mich gewartet hat, um mir die Führung zu übertragen. Aber letztlich habe ich es nicht nötig; vor allem nicht, mich infrage stellen zu lassen oder gar angegriffen zu werden. Da verzieh ich mich wieder.“

Staphisagria: „Man kennt mich allgemein als ausgesprochen liebenswürdig und um diesem Eindruck weiterhin gerecht zu bleiben, tue ich auch fast Alles und lasse fast Alles mit mir machen. Aber jetzt ist der Punkt erreicht, wo ich vor Wut platzen und Euch Dinge an den Kopf schmeißen könnte!“

Sulfur: „Mir ist Euer Geschwafel einfach zu banal…mehr brauche ich dazu wohl kaum zu sagen!“

Nux vomica: "Ach Mensch, ich bin doch Derjenige unter Euch, der am meisten schuftet. Alle wollen nur Leistung, Leistung, Leistung von mir...und dann ist es immer noch nicht genug! Ich weiß, ich bin gut und arbeite rund um die Uhr. Aber ob das meinem Blutdruck und meinem Magen gut tut? Na ja...dann werf' ich halt ein paar Tabletten ein. Also, keine Zeit für Euch!“

Ohje, klare und deutliche Antworten gab es da! Aber gerade diese Aussagen können doch auch dazu geeignet sein, das verlorene Gespräch zu suchen und gemeinsam wieder aufzunehmen. So individuell die Stärken und Schwächen der Einzelnen sind, die persönlichen Erfahrungen und Erwartungen, so kreativ und bereichernd kann der Austausch sein.

Und da sie nicht gestorben sind …