Pullover stricken – gar nicht so doof
Stricken als Therapie
“Pullover stricken für den kommenden Winter….”
Handarbeiten wie das Stricken können Menschen bei der Überwindung von Krisensituationen helfen – und kann das Stricken als Achtsamkeitstraining im Sinne der Salutogenese nach Aaron Antonovsky (Antonovsky & Franke, 1997), die Homöostase wieder herstellen?
Ausgangspunkt des Salutogenese-Modells ist die Stressbewältigungs-Forschung
Stress ist der Sammelbegriff für die Belastungen, denen der Mensch tagtäglich ausgesetzt ist.
Antonovsky verweist auf psychosoziale Stressoren und unterscheidet darunter 3 Typen:
- bedeutsame Lebensereignisse, die in der Stressliteratur als „life events“ bezeichnet werden, wie z. B. Todesfälle, Heirat, Geburten, Scheidung, berufliches Scheitern;
- akute Widrigkeiten, wie sie jedermann widerfahren, z. B. Streitigkeiten, Abfuhren, Unfälle, misslungene Versuche, nicht bestandene Examina;
- chronische Stressoren, wie z. B. berufliche Überforderung, Mobbing, unglückliche Beziehung, anhaltender Mangel an Ressourcen, unbehebbare Defizite
Achtsamkeitstraining
Stricken verstehe ich als Achtsamkeitstraining und in der Folge stelle ich kurz Therapien aus der Verhaltenstherapie vor, die Achtsamkeitstraining beinhalten.
- Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) vor allem bei Borderline Persönlichkeitsstörungen – der Patient soll sich mit seinen Problemen auseinandersetzen. Stricken kann sich hier auch als Gruppentraining eignen. Es geht um innere Achtsamkeit, Stresstoleranz, Umgang mit Gefühlen, zwischenmenschliche Fertigkeiten und Selbstwert.
- Mindfulness-based Cognitive Therapy (MBCT) entwickelt zur Rückfallprophylaxe bei Depressionen – der Patient soll durch Achtsamkeitsübungen lernen, Frühwarnsymptome zu erkennen.
- Metakognitive Therapie (MCT) – hier geht es um das Erkennen verzerrten Denkens. Der Patient soll lernen, seine negativen Gedanken nicht zu interpretieren. Stricken hilft gegen das Grübeln.
- Schematherapie entwickelt für Patienten mit Persönlichkeitsstörungen – es geht darum, den Patienten in Kontakt mit Erfahrungen bringen, die ihm beim Aufwachsen fehlten. Ich denke da an „Stricken als Tradition“, die Oma, die mir das Stricken beibrachte.
- Acceptance and Commitment-Therapie (ACT) – es geht darum, Negatives, also auch Scheitern, anzunehmen und sich an persönlichen Werten und Zielen zu orientieren. Beim Stricken kommt es zu Fehlern: manchmal muss man einfach annehmen, dass man alles wieder aufmachen muss und der Neuanfang muss überlegt werden. Die Belohnung folgt prompt durch das bessere Ergebnis.
- Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) entwickelt für chronisch depressive Patienten mit Störungen des Selbstwertes, Hoffnungslosigkeit, Gedächtnis- und Erinnerungsproblemen, Probleme der Selbstwahrnehmung und Erfahrungsverarbeitung. Wie ich im weiteren erläutern werde, kann Stricken
- den Selbstwert steigern durch Erfolge,
- gegen Hoffnungslosigkeit helfen durch neue Perspektiven.
- Stricken ist ein Schritt für Schritt vorankommen, es gibt viele Belohnungsmomente durch Etappenerfolge. Beim Stricken steht das Projektziel nicht im Vordergrund – der Weg ist das Ziel. Je nach Stadium des Projektes ist es mal Herausforderung, Geduldsprobe und mal Entspannung. Stricken trainiert das Gehirn, somit Erinnerung, Wahrnehmung und Verarbeitung von Erfahrungen (Kubny, 2020).
Betätigung ermöglicht dem Menschen:
- eigene Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten zu entwickeln und auszubauen,
- eigene Möglichkeiten, aber auch persönliche Grenzen zu erkennen,
- sich selbst zu strukturieren,
- eigene Ziele anzustreben,
sich selbst als wirksam und als wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu erleben
Aktueller Forschungsstand
Bei Pubmed ist zu dem Schlagwort „Therapeutisches Stricken“ nichts zu finden.
Hier einige Studien, die im Zusammenhang mit dem therapeutischen Nutzen des Strickens stehen. Etliche Studien waren nur auf Englisch verfügbar und ich habe sie unter der Zuhilfenahme von Deepl.com übersetzt.
Epilepsie
McKay & Tatum (2019) beschreiben folgenden Fall:
Fronto-zentrale Theta-Rhythmen im EEG wurden mit kognitiven Aufgaben in Verbindung gebracht, die Aufmerksamkeit und Konzentration erfordern, wie z. B. Kopfrechnen oder geometrisches Konstruieren. …
Es wird über eine Fall von fronto-zentralem Theta-Rhythmus beim aktiven Stricken mit nur passiver Konzentration berichtet. Es geht darum die Beteiligung einer kortikomotorischen Komponente hervorzuheben, die den neuronalen Netzwerken zugrunde liegt.
Eine 53-jährige Rechtshänderin kam in die Epilepsieüberwachungsstation zur Differentialdiagnose. Sie lernte das Stricken in der 4. Klasse und strickte regelmäßig in den letzten 5 Jahren.
Ihre Vitalzeichen und neurologischen Untersuchungen waren normal. Ein Handy-Video eines charakteristischen Anfalls der Patientin zeigte ihren leeren Blick mit Blinzeln der Augen und sporadischen, nicht-rhythmischen Flexions-Extensions-Bewegungen in der linken Hand. Auf die Frage ihres Mannes, wie es ihr gehe, sagte sie “okay”. Sie berichtet, sie habe nicht sprechen können, aber sie konnte während des Ereignisses hören und verstehen.
Die Patientin unterzog sich 48 Stunden lang einer kontinuierlichen Video-EEG-Überwachung, ohne dass interiktale epileptiforme Entladungen oder Ereignisse aufgezeichnet wurden. Während des zweiten Tages der Überwachung strickte sie häufig mit fließenden bimanuellen Bewegungen der Daumen und Zeigefinger, um sich die Zeit zu vertreiben. Oft während sie fernsah oder mit ihrem Ehemann sprach. Ein reproduzierbarer fronto-zentraler Theta-Rhythmus wurde am Tag 2 der Beobachtung mit einem aufgabenspezifischen und zeitassoziierten fronto-zentralen 5-6 Hz Theta-Rhythmus während des aktiven Stricken aufgezeichnet.
Demenz
Eine 2011 durchgeführte Studie der Mayo Clinic:
Man kam zu dem Ergebnis, dass Stricken das altersbedingte Nachlassen der Hirnfunktion bremst. Die Wissenschaftler befragten 1321 Menschen im Alter von 70 bis 89 Jahren über die Aktivitäten, die ihren Alltag prägten. Das Ergebnis: Wer Handarbeiten wie Stricken oder Häkeln nachging, litt seltener an kognitiver Beeinträchtigung und Gedächtnisverlust (Bone et al., 2022).
Masche für Masche füllt die Wissenschaft den Raum:
Eine von Almeida et al. (2012) beschriebene Studie:
Der Trend der Bevölkerungsalterung hat die europäischen Institutionen veranlasst, das Jahr 2012 zum Europäischen Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen auszurufen.
- In Anbetracht dieser Tatsache und im Bewusstsein des Potenzials des sozioökonomischen Beitrags älterer Menschen zur Entwicklung der Gesellschaft.
- Die Bedeutung der Schaffung von Möglichkeiten für ein aktives Altern und
- die Bedeutung der Beschäftigungstherapie (einschließlich Häkeln) als Mittel zur Wiederherstellung gesunder Verhaltensweisen,
wurden Senioren an einer Aktivität im Rahmen der Festa da Ciência beteiligt. Genauer gesagt, haben sie ein Korallenriff aus gehäkelten hyperbolischen Modellen gebaut. Eine Kombination aus Biologie, Mathematik, räumlichem Vorstellungsvermögen, Farbe und Spaß.
Depression
Eine Korrelations-Studie zwischen Engagement in Freizeitaktivitäten und Depression bei älteren Erwachsenen in den Vereinigten Staaten: „Es zeigten sich in den Längsschnittdaten aus der Health and Retirement Studie Hinweise zur positiven Wirkung des Handarbeitens“ (Bone et al., 2022).
*Kubicki hatte Habecks Krisenkommunikation unlängst in einem Zeitungsinterview gerügt. Der Liberale hatte bemerkt, man dürfe "den Leuten nicht das Gefühl vermitteln, im Winter wird's kalt und dunkel und sie müssen jetzt anfangen, Pullover zu stricken". Von Lanz mit der Aussage konfrontiert erwiderte der Vizekanzler trocken: Dass es im Winter kalt und dunkel werde, sei ein Naturgesetz. Gegen Stricken sei nichts einzuwenden: "Kubicki im Pullover - er wird es auch überleben."
Lies auch meinen weiteren Beitrag über das Therapeutische Stricken
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